Exkursion mit Studierenden ins Theater am Werk

26.10.2025

Wie lässt sich Herkunft in der postmigrantischen Gesellschaft erzählen? Studierende besuchten das Theaterstück „Richterskala 7,8“.

Im Rahmen des Proseminars „Herkunft erzählen: Erinnerung und postmigrantische Identität in der Gegenwartsliteratur“ besuchten Bachelorstudierende der Vergleichenden Literaturwissenschaft gemeinsam mit Lehrveranstaltungsleiterin Anna Hell am 23. Oktober das Theaterstück „Richterskala 7,8“ (zum Trailer) im Theater am Werk. 

Im Anschluss hatten die Studierenden Gelegenheit, mit den beiden Autorinnen und Schauspielerinnen, Elif Bilici und Özge Dayan-Mair, über ihr Stück zu sprechen. 


Die Studierenden Julia Hofer und Jonas Geisler teilen mit uns ihre Eindrücke von der Exkursion:

Elif Bilici und Özge Dayan-Mair verarbeiten in dem autobiografischen Theaterstück „Richterskala 7,8“ ihre persönlichen Erfahrungen zwischen Izmir und Wien (Regie: Martina Gredler, Produktion: diverCITYLAB). Der Titel referenziert die Stärke des verheerenden Erdbebens, das im Jahr 2023 die Türkei und Syrien erschütterte.

Elif Bilici und Özge Dayan-Mair beleuchten in ihrem Theaterstück die Komplexität des migrantischen Erlebens und die Ambivalenz von Hoffnungen und Realität. So sagt Özge Dayan-Mair: „Wir leben in Wien, aber wir erleben es nicht.“ Das Stück dient als Ventil für eine Gesellschaftskritik, die im Alltag keinen Ausdruck finden kann.

Denn wie Elif Bilici in ihrer Rolle angesichts ihres inneren Bebens und der unterdrückten Wut sagt: „Als Migrantler muss ich immer dankbar sein.“ Der nachgeahmte Dialekt unterstreicht die in dem Wortspiel aus „Migrant“ und „Grantler“ bereits angelegte spezifisch wienerische Erfahrung. Auch Zweisprachigkeit ist ein zentrales Element des Stücks, insbesondere türkische Musik.

Die Plastikstühle auf dem sandbedeckten Boden der Bühne symbolisieren zugleich den Warteraum der der für Einwanderung und Staatsbürgerschaft zuständigen Magistratsabteilung 35 in Wien, nostalgische Erinnerungen an Strandbesuche vor der Krisenzeit und die Krisenlage nach dem Beben. Die Darstellerinnen sitzen wortwörtlich „zwischen den Stühlen“. Dabei sprechen sie bewusst von der Erfahrung des „Inzwischen“ anstatt „Dazwischen“, um sich der räumlichen Konnotation zu entledigen und den zeitlichen Aspekt zu betonen. 

Ein Ort unterliege stetigem Wandel, der über die Zeit für eine zunehmende Distanzierung sorge, erläutern Elif Bilici und Özge Dayan-Mair in unserem Gespräch nach der Aufführung. Elif Bilici erklärt, „Zuhause“ sei für sie ein Gefühl, das sich aus Erinnerungen zusammensetzt. Damit liefert sie eine Antwort auf die Leitfrage unseres Seminars, wie sich Herkunft und Identität in der postmigrantischen Gesellschaft erzählen lassen. 

Die Exkursion eröffnete uns eine neue, unmittelbare Perspektive auf unser Seminarthema und machte dessen Bedeutung für die aktuelle Kulturlandschaft deutlich.


Auch Lehrveranstaltungsleiterin Anna Hell, Praedoc an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft, freut sich über den gelungenen Abend:

Exkursionen wie diese verbinden die manchmal abstrakten literarisch-theoretischen Debatten in Seminaren auf lebendige Weise mit dem Kulturleben Wiens. Sie zeigen, dass unser Fach im direkten Dialog mit Kunst, Stadt und Gesellschaft stattfindet.“

Die Studierenden im Gespräch mit den Autorinnen und Schauspielerinnen Elif Bilici (vorne rechts) und Özge Dayan-Mair (vorne links). © Melina Cerha-Marcher

In ihrer autobiografischen Performance verarbeiten Elif Bilici und Özge Dayan-Mair das Erschüttern in der Welt, der Politik und im Selbst, in Izmir, in Wien, und im immerwährenden Dazwischen. © Peter Griesser

Ein Blick hinter die Kulissen: Studierende und Lehrveranstaltungsleiterin Anna Hell im Theater am Werk (nicht alle Seminarteilnehmenden nahmen an der freiwilligen Exkursion teil). © Laura Kisser